Der Himmel über Sodom - Texthintergrund

Version Tigrinya (Mehrheitssprache in Eritrea)
Übersetzung: Goitom Beraki

Das Oratorium versteht sich als Beitrag zum 500. Jahrestag der Lutherischen Reformation, die durch den Thesenanschlag zu Wittenberg am 31.10.1517 begann und behandelt die Gerechtigkeitsfrage. Das Musikwerk nimmt aktuelle Bezüge zur Frage auf, wie mit Asylsuchenden umgegangen werden soll. Es untersucht anhand der in der Bibel, im Koran und im Talmud erwähnten Geschichte von Sodom, ob ein Einzelner in einer zunehmend dem Gastrecht feindlich gesinnten Masse moralisch handeln kann.

Es geht bei der Sodomie nicht um homosexuelle Liebe (eine Interpretation, aus der konservative Interpreten das Verbot gleichgeschlechtlicher Liebe im Koran ableiten), sondern um Macht, die sich durch Missbrauch und Vergewaltigung ihre Basis sichert und den Einzelnen zum rechtlosen Individuum in einer korrupten und dekadenten Gesellschaft degradiert.

Textgeschichtlich greift das Libretto auf den Beginn des antiken griechischen Dramas zurück, insbesondere auf Aischylos, der durch die Reduktion der Chormitglieder und durch Einführung der gesprochenen Rede als Handlungsträger mittels mehrerer Schauspieler dem Drama entscheidende Handlungsimpulse gab, weg von einer bei den Aufführungen der Großen Dionysien zuvor üblichen Statik in der Handlung. Diese Aufführungen, bei denen dem Chor eine hervorragende Rolle zukam und nur ein Solist/Schauspieler auf der Bühne stand, glich eher einem Oratorium, denn einem Schauspiel im heutigen Sinne.

Die Schutzflehenden von Aischylos, vermutlich um 463 v. Chr., gibt dem Chor allerdings wieder eine stärkere Position und rückt ihn in die tradierte Position des Handlungsträgers. An diese machtvolle Rolle des Chors knüpft Der Himmel über Sodom an. Der durch schicksalhafte Verstrickungen zum tragischen Helden werdende Lot steht dem Chor der Sodomiter mit seinem Chorführer am Ende hilflos gegen über.

Vorspiel

Die eritreischen Engel Mebrathu und Sebhat blicken vom Himmel auf die Erde. Sie sehen flüchtende Landsleute, die an der Grenze zum Königreich von Sodom aufs Weiterkommen warten. Das Schicksal der Landsleute rührt die Engel, doch sie sind machtlos. Sie kommen ins Gespräch über ihren eigenen Leidensweg: Mebrathu wurde gefoltert, Sebhat gab aus Angst vor der Folter eine Verpflichtungserklärung gegenüber der Staatssicherheit ab, bevor er außer Landes floh.

1. Akt

Der Chorführer lässt den Chor der Sodomiter ein Lied auf den Wohlstand des Volkes anstimmen, während er versucht, seinen stummen Sohn Mutus auf seine Seite zu ziehen. Der Chor besingt Konsum, Sex, Macht und ein für fast alle auskömmliches Leben. Ausschweifungen und Übergriffe werden mit der Natur des Mannes entschuldigt. Lot ist ein gottesgläubiger Mann. Vor vielen Jahren wurde er in Sodom aufgenommen und vom alten König zum Richter ernannt. Er wird von den Sodomitern geachtet, weil er bei der Anwendung sodomitischen Rechts zumeist Milde walten lässt. Insgeheim spricht Lot diesem jegliche Gerechtigkeit ab. In den Nachbarländern bricht Krieg aus und Flüchtlinge kommen an die sodomitische Grenze und begehren Einlass. Sodom kennt kein Recht auf Asyl, Gastrechte sind unbekannt, doch billige Arbeitskräfte werden immer gebraucht. Für Lot ist der mit dem Gastrecht verbundene Schutz ein heiliges, unantastbares Gut. Doch die Flüchtlinge werden kaserniert, ihres Geldes beraubt und der Zwangsarbeit zugeführt. Schließlich wird ein junger Flüchtling von einer Gruppe Sodomiter vergewaltigt.

2. Akt

Mebrathu und Sebhat besuchen Lot. Er gewährt ihnen Quartier und Unterkunft für die Dauer ihres Aufenthalts. Lot fragt nicht nach den Gründen ihres Besuchs. Er ermahnt die Engel, sich nicht öffentlich zu zeigen, während er seiner Arbeit am Gericht nachgeht. Die Engel fragen Lot, ob die Geschichte des Flüchtlings wahr ist, der von fünf Sodomitern vergewaltigt wurde. Lot hört die Geschichte zum ersten Mal. Die Engel geben sich als von Gott gesandte Beobachter zu erkennen und drängen Lot, dem Fall nachzugehen und über die Täter zu richten. Lot zögert, hat Angst, fürchtet, aus Sodom verjagt zu werden. Er erklärt sich schlie ßlich bereit, mit einem juristischen Kniff einen Prozess anzustrengen.

3. Akt

Lot verkündet das Urteil im Prozess gegen die Vergewaltiger. Es kommt zu Zwischenrufen und Tumulten. Lot lässt den Gerichtssaal räumen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit legt er seine Argumentation offen, spricht von einer Gerechtigkeit, die über dem geltenden Recht steht. Von den Engeln als Beobachter lässt Lot sich die Richtigkeit seines Handels attestieren. Draußen vor dem Gericht versammelt sich das Volk. Steine fliegen durch die Fenster. Einige skandieren, man solle sich Lot und seine Besucher vornehmen und ihnen aufzeigen, was Recht in Sodom sei. Die Meute macht sich daran, das Gericht zu st ürmen.

4. Akt

Soldaten stoppen die Aufgebrachten. Der Herold tritt auf und verkündet neue Gesetze des Königs. Sie folgen einer Doppelstrategie: Die Grenzen werden abgeschottet, gleichzeitig wird ein Asylrecht im Gesetz verankert und den bereits im Land vorhandenen Flüchtlingen eine Prüfung ihrer Fluchtgründe zugesichert. Der Herold spricht abschweifend, es wird deutlich, wie sehr sich der König von seinem Volk entfernt hat. Aufbegehren im Volk, doch am Ende des Botenberichts treiben die Soldaten die Menschenmenge auseinander.

5. Akt

Der Chorführer will Vergeltung und arbeitet an der Übernahme der Macht. Die gewaltbereitesten Männer Sodoms überfallen Lots Haus. Der Chorführer fordert seinen Sohn Mutus auf, sich an den Lynchmorden zu beteiligen. Mutus ist starr vor Entsetzen. Mebrathu und Sebhat werden erschlagen. Der Chorführer ersticht Lot. Mutus findet endlich Worte und schreit sein Entsetzen, seine Rebellion gegen die Gewalt heraus.

Eric Giebel